Der Neunte
ISBN-10: 395039060X / ISBN-13: 978-3950390605
Publisher: Nischen Verlag
Translator: Eva Zador
Language: German
Country: Austria
Publication date: 2015
Edition: hardcover
An excerpt
eins
Heute Nacht war ich mutig im Traum: ich stand irgendwo auf einer Lichtung, drei Jungen kamen mir entgegen. Zuerst habe ich sie nicht erkannt, dann aber sah ich, dass es Perec und die anderen waren. Der kleinste Junge hielt eine Axt in der Hand; ich hatte das Gefühl, sie wollten wieder das machen. Ich weiß nicht mehr wie, aber ich habe ihm die Axt weggenommen, und dann das gemacht, was ich auch im anderen Traum getan habe. Es ging schnell. So schnell, dass ich jetzt gar kein Blut sah, dabei kam viel Blut aus ihnen heraus. Dann wartete ich auf die Polizisten. Zwei Wagen trafen ein, ohne Sirene. Als die Polizisten aus dem Wagen stiegen, drehte ich mich zur Seite: drei bis vier Meter vor mir schwammen zwei Körper auf dem Wasser, mit dem Bauch nach unten; den dritten Jungen hoben sie gerade aus dem Wasser. Ich glaubte, wir wären an einem Fluss. Dann bemerkte ich, dass ich am See stand. Ich hatte keine Angst. Ich war ruhig. Ich freute mich darüber, was ich getan hatte. Interessant war, dass das Gesicht von Perec ganz normal aussah; als wäre er einfach nur ertrunken. Das Gesicht der anderen beiden Jungen habe ich nicht gesehen, trotzdem dachte ich aus irgendeinem Grund, dass auch ihr Gesicht genauso aussah, wie zu dem Zeitpunkt, als sie mich geschnappt hatten. Dabei ist es ganz sicher, dass ich das gemacht habe, wie auch in dem anderen Traum, ganz sicher. Als mich der eine Polizist an der Schulter fasste, hatte ich die Axt noch in der Hand. Es war ein gutes Gefühl, sie festzuhalten.
Gegen halbfünf, wenn Vater zur Arbeit geht, wache ich auf. Vater arbeitet immer noch bei der Staatsbahn, doch jetzt bei der Stationsdirektion in Rákoskeresztúr, wo er vor Kurzem die Kontrolleursarbeit zusätzlich übernommen hat. Er ist gezwungen, die neuen Berufe schnell zu lernen, weil wir, solange wir das Große Haus bauen, eigentlich keine Rosenkränze und solche Sachen machen können. Mutter steht gegen fünf auf. Das weiß ich, weil sie danach gleich auf die Straße hinausgeht, wo sie jemanden nach der genauen Uhrzeit fragt. Wenn sie Frühschicht hat, macht sie das immer. Bei der ersten Sammlung haben wir keine Uhr bekommen, sie darf aber in der Kugelschreiberfabrik in Szentendre nicht zu spät kommen. Sie wurde erst vor Kurzem da eingestellt, in zwei Schichten. Mutter hat wegen dem Kinderkriegen keinen Beruf, deshalb muss sie Kugelschreiber zusammenschrauben. Während sie sich fertig macht, tue ich so, als würde ich schlafen, wie die anderen. Mein Kopf unter der Decke, die Füße von Schuckel an meinem Gesicht; ich schiebe sie weg, wie sonst auch. Dann versuche ich, wieder einzuschlafen, aber es gelingt mir nicht.
Jetzt wohnen wir in dem Kleinen Haus in Pomáz. Vater und die drei Großen Jungen haben es unter der Leitung von Onkel Miska gebaut, während wir Kleinen in der Bombenvilla waren; na, und die Mädchen auch, beziehungsweise Mutter. Die Bombenvilla ist in Debrecen. Sie ist im Zweiten Krieg ausgebrannt, Vater hat sie aber fünfundvierzig im Tausch gegen die erlassene Miete in Ordnung gebracht, weil er da noch Geld von der Armee hatte. Erst später wurde er aus der Volksarmee rausgeschmissen. Wir sind alle da geboren, also im Krankenhaus. Mutter hat in die Entbindungsstation in Debrecen immer ein Holzkreuz mitgenommen, dabei hatte ihr Doktor Szilágyi gesagt: „Meine Liebe, das wird kein gutes Ende nehmen, das letzte Mal habe ich auch schon fast Schwierigkeiten bekommen.“ Mutter zuckte daraufhin mit den Schultern, während sie innerlich weinte, was vielleicht auch die anderen sehen konnten, Doktor Szilágyi ganz bestimmt, dann legte sie sich auf das Entbindungsbett, hielt das Holzkreuz fest in der Hand, und wir kamen. Ich war der Neunte.
Im Kleinen Haus gibt es ein Zimmer und eine Küche. Vater schläft in der Küche und wir im Zimmer. Vater hat in der Ecke neben dem Herd ein eigenes Bett, in dem er allein liegt. In der Küche gibt es noch einen Tisch und einen Stuhl. Unser Zimmer ist so groß, dass drei Holzbetten, der Eisenofen und die große Truhe darin Platz haben. In der haben wir unsere Kleider. Die Betten haben wir nebeneinander geschoben, sonst würden wir nicht draufpassen. Auch so müssen alle quer liegen; ein Glück, dass wir Kleinen, abgesehen von mir, körperlich nicht so groß sind. In der Bombenvilla, wo wir sogar zwei Zimmer hatten, haben wir das Schlafen leichter gelöst. Vater hat von der Stationsdirektion in Debrecen günstig Eisenbetten gekauft, die man tagsüber zusammenklappen konnte. Und abends haben wir sie aufgeklappt. Dann waren die beiden Zimmer voller Betten, mit Ausnahme vom Schreibtisch, dem Spritzgießer, dem Harmonium sowie dem Bücherregal und dem braunen Schrank, in dem wir Kleinen uns vor allem dann versteckten, wenn einer von den Großen irgendwie ernsthafter bearbeitet wurde. Die Eisenbetten haben wir trotzdem nicht mit nach Pomáz genommen. Darüber freute ich mich am meisten. Besser, wenn ich gleich jetzt erzähle, warum.
Ich war vielleicht vier. An einem Nachmittag, als ich aus irgendeinem Grund keine Lust zum Fröschequälen hatte, ging ich in das hintere Zimmer und fing an, mit dem einen Eisenbett zu spielen, weil wir meistens eins für jeden Fall neben der Spritzgießmaschine aufgeklappt ließen. Ich schob das Bett hin und her, wie ich eben konnte, und dann steckte ich meine Finger der Reihe nach zwischen die Gurte, um sie festzumachen. Ich war gerade mit meinem linken Daumen im Loch, als Socke plötzlich da war und auf das Bett sprang. Ich spürte nichts, heulte nur. Da kam Mutter hereingerannt und befreite meinen Finger. Trotzdem brachte nicht sie mich zum Arzt. Zuerst verpackten sie meinen Finger in einen Lappen, und den in Zeitungspapier, ich habe keine Ahnung, warum gerade da rein, dann ging ich mit Amme zur Stationsdirektion, und von dort zusammen mit Vater zur Klinik. Der Onkel Doktor lobte Amme: „Du bist geschickt, mein Kind, du hast den Finger von deinem Brüderchen nicht verloren.“ Das war das erste Mal, dass ich längere Zeit im Krankenhaus war.
Nach Mutter stehen Amme und Tera am frühsten auf. Sie sind fast sofort fertig, da sie im Winter nachts die Kleider vom Tag anlassen, so wie wir auch; wir wärmen uns umsonst gegenseitig unter den Decken, das reicht nicht. Seit sie bei den Franziskanern in Szentendre rausgenommen wurden, gehen sie in die Leinenspinnerei in Buda arbeiten. Vater hat das Rausnehmen mit dem Herrn Rektor schnell erledigt: „Verstehen Sie, Pater Loránt, unser Lohn, also die neunhundert Forint, die wir von diesen dreckigen Kommunisten bekommen, decken unsere Ausgaben nicht. Und wir bauen noch unser Haus, Sie wissen doch.“ Amme und Tera gehen kurz nach Mutter los.
Wir liegen nur noch zu siebent auf dem Bett. Den meisten Platz nimmt Pastor ein, der immer so tut, als würde er in seinem eigenen Bett schlafen. Egal wie wir ihn treten, er rührt sich nicht. Selbst im Schlaf ist er etwas Besonderes, ganz zu schweigen davon, dass er ständig in der Nähe von Mutter schläft. Morgens aber hören wir alle auf ihn. Er zeigt uns, wie wir Fußlappen in die Schuhe machen müssen, sonst würden sie im Schnee und Matsch noch mehr durchweichen; wenn nötig, sagt er uns, wie wir unser Hemd in die Trainingshose stecken sollen, oder wenn jemand von uns Kleinen erkältet ist, befiehlt er Socke und Risi, uns dann für den Tag ihre Pullover zu geben. Pastor spricht sehr gerne für andere, aber es stimmt auch, dass keiner an seine Kleider gehen darf. Neben der großen Truhe hat er eine kleine Kiste, die er mit dem Schlüssel abschließen kann. Er hat als einziger in der Familie eine Jeans, die hat er sich noch in Debrecen beschafft, keiner weiß woher. Mutter wollte eigentlich zuerst Klavierspielerin werden, dann Nonne, aber der Zweite Krieg kam, und meine Szekler Großeltern entschieden schnell, dass es besser ist, wenn sie die Frau eines Offiziers wird, weil sie dann aus Siebenbürgen fliehen kann. „Herr Leutnant, wo Püppi ist, da muss auch ein Klavier sein“, sagte die Szekler Oma vor der Hochzeit zu Vater, und er versprach, ein Klavier mit Gussrahmen zu kaufen.
Pastor ist siebzehn, er darf weiter zu den Franziskanern nach Szentendre gehen. Mutter hofft insgeheim, dass er einmal Pfarrer wird. Bis einschließlich Tera, die die kleinste von den Großen Mädchen ist, war Mutter sehr verbittert, weil es ihr nicht gelang, einen Jungen zu bekommen, dabei wollte sie unbedingt einen Pfarrer. Umsonst nahm sie das Kreuz mit in die Klinik, es kamen immer nur Mädchen. Zuerst Kláró, nach ihr Amme, schließlich Tera. Dann wurde Pastor doch geboren. Doktor Szilágyi glaubte, er würde Mutter danach nicht mehr sehen. Aber es kam anders.
Im Kleinen Haus frühstücken wir derzeit meist nicht. Den Herd, auf dem wir den Tee kochen und das Brot rösten, zünden wir erst abends an; wir müssen mit der Kohle sparen, besonders jetzt, da nur vier Säcke geblieben sind. Gut, dass das Wetter in den letzten Wochen milder war. Vater behauptet, dass sie in den Karpaten, wo die Russen sie auf Trab hielten, lange bei Minusgraden geschlafen und manchmal überhaupt nichts gegessen hätten. „Also seid auch keine Waschlappen!“ sagt er oft. Vaters Meinung nach gibt es nichts Niederträchtigeres, als wenn jemand ein Waschlappen ist. Wenn aber Tee vom Vorabend übrig ist, dann trinken wir den. Mal mit Zucker, mal ohne, je nach dem, ob wir welchen kaufen konnten. In der Schule bekommen wir dann ein Pausenbrot. Wir gehen alle in den Hort, was pro Kopf vierundzwanzig Forint im Monat kostet. Für das Geld gibt es noch ein Mittagessen und eine Mahlzeit am Nachmittag. Aber für Pastor und Socke nicht, sie können im Gymnasium nur zu Mittag essen.
Gegen Viertel nach sieben gehen wir los zur Schule. Wir Kleinen gehen meist zusammen, weil wir alle in die Volksschule Nummer Zwei gehen. Benjamin in die erste Klasse, Schuckel in die zweite, Mara in die vierte und ich in die dritte. Risi geht schon in die siebte Klasse, er ist aus irgendeinem Grund in die Nummer Eins gekommen, nah beim Meselia-Berg; Socke lernt im Fachgymnasium in Békásmegyer, das er letztes Jahr begonnen hat. Wenn er fertig ist, wird er Elektriker. Unsere Schule ist am Dorfende, nicht weit vom alten Dorfteil; von unserem Haus gerechnet gehen wir mindestens eine halbe Stunde, wenn nicht mehr. Der Heckmotor-Bus würde uns schnell hochfahren, aber dafür haben wir kein Geld. Wenn wir am Ostermontag wieder von Tür zu Tür gehen, um die Mädchen mit Parfum zu begießen, und ein bisschen Geld bekommen, dann können wir eine zeitlang Fahrkarten kaufen, so wie unsere Klassenkameraden aus dem neuen Dorfteil, die fast alle mit dem Bus fahren.
In der Schule tun wir so, als würden wir einander nicht kennen. Nur Mara versucht manchmal, in den Pausen mit uns zu sprechen, aber sie ist ein Mädchen und überhaupt ist ihre Aussprache besser. Wenn wir können, gehen wir ihr aus dem Weg, und wenn wir sie doch treffen, rennen wir schnell weg. Beim Aufstellen in Zweierreihen geht das nicht, dann antworten wir etwas.
Meine Lehrerin heißt Tante Vera. Ihre Haare sind dunkelbraun, und sie hat fast so eine schöne Stimme wie Mutter. Sie zieht ihre Socken in der Stunde nicht aus. Tante Magdi, bei der wir in der zweiten Klasse Unterricht hatten, hat ständig ihre Socken auf dem Eisenofen getrocknet. Und hat ihre Füße auf den Tisch gelegt. „Wisst ihr, Kinder, das ist das einzige, was meinen schmerzenden Beinen hilft.“ Ständig hat sie das gesagt, und dann hat sie laut geseufzt. Wegen den Socken hat es im Klassenzimmer nicht stärker gestunken. Das war zumindest mein Gefühl. Die anderen habe ich nicht gefragt, in der zweiten Klasse war ich auch meistens still.
Tante Vera hat mich neben die Szabó gesetzt. Wir sind die Letzten in der Reihe am Fenster. Die Szabó ist sehr dick und riecht komisch, außerdem ist sie ein Mädchen. Als ich mich neben sie setzte, stierte sie gleich auf meinen Finger, manchmal vergesse ich meine linke Hand nämlich völlig. Da fiel es mir aber wieder ein, und ich stach sie mit meinem Stift in die Hand. Zuerst dachte ich, das Fett würde aus ihr rausfließen, aber es kam nichts, die Haut schützte sie.
Bis zur Schreibstunde denke ich vor allem an das Pausenbrot, beziehungsweise an die Butterbrottüte von der Dunai. Die Dunai sitzt genau vor mir und hat schon wieder ein Salamibrötchen mit. Während wir laut lesen, spüre ich den Paprikageruch immer stärker, das Ganze ist wie in der Metzgerei, wohin ich ein-, zweimal die Woche gehe. Ich wünsche mir dann immer, hätte doch bloß keiner die Salami erfunden. Wenn ich nicht immer im Morgengrauen aufwachen würde, dann würde ich, glaube ich, auch die Gerüche nicht so stark spüren, und dann käme vielleicht auch aus der Szabó keiner. Ich weiß nicht, ob sie ein Badezimmer haben, und ob sie überhaupt badet, aber sobald ich die Butterbrottüte von der Dunai vergesse, spüre ich sofort den Geruch, den ich auch bei unserem Nachbarn spüre, der mich manchmal einlädt, bei ihm Fernsehen zu gucken, und der während des Fußballspiels ständig sagt, „wo ist der Frosch, wo ist der Frosch“. Aber vielleicht kommt dieser Geruch auch von mir und ich hänge ihn der Szabó nur an.
In der ersten Pause gehe ich auf das Klo im Hof. Hier bin ich fast am liebsten. Es ist mindestens zehnmal so groß wie das zu Hause, man kann darin herumspazieren. Es stört mich nicht, dass es stinkt, es ist gerade richtig. Wenn die anderen reinkommen, dann tue ich so, als würde ich pinkeln. Manchmal tue ich sechs- oder siebenmal so. Hier überprüfe ich auch meinen Bauch, natürlich nur wenn ich alleine bin. Ich ziehe mein Hemd hoch, entspanne meine Muskeln, und dann schaue ich, wie dick mein Bauch angeschwollen ist. Morgens ziemlich. Meine Mitschüler glauben, dass ich dünn bin. Ich bin nämlich ordentlich gewachsen, fast so groß wie Risi, dabei ist er dreizehn und ich neun; außerdem sieht mein ganzer Körper in Kleidern dünn und knochig aus, was auch stimmt, mit Ausnahme von meinem Bauch, der speckig ist und den ich ständig einziehe. Wahrscheinlich wird er nicht so dick wie der von der Szabó, obwohl ich das letzte Mal geträumt habe, dass ihr ganzes Fett in mich hinübergeflossen ist.
Blurb
Während die Kádár-Ära viele Ungarn zu Opportunisten und Komplizen machte, erzählt der neunjährige Held des Romans sein Jahr 1968, von dem Leben der zwölfköpfigen Familie und seinen Erlebnissen, an deren Ende ein eigenes Vergehen steht, in einer reinen und schonungslosen Sprache. Den Rahmen bildet der Kampf des Vaters, eines ehemaligen Offiziers, der heimlich mit Rosenkränzen handelt, und der Mutter, die mit einer verschroben katholischen Spiritualität die Familie zusammenhält: An einem großen Haus wird gebaut, bis dahin aber ziehen die Eltern ihre zehn Kinder in einer winzigen Wohnung bei Budapest auf. Außer ihnen gibt es da noch den mit Sündengrafiken hantierenden Pfarrer, die kommunistische Baubrigade, den dichtenden Redakteur einer katholischen Zeitung, die gut riechende Lehrerin und die Mitschüler, bedrohlich und verlockend. Der Neunte ist nicht nur die ergreifende Geschichte einer facettenreichen Familie in absoluter Armut, sondern auch in Gestalt des namenlosen Helden ein sinnliches Zeugnis osteuropäischer Daseinskämpfe; der Roman enthüllt das Gewebe seelischer und praktischer Gewalt mit einer verhaltenen Poesie voller Schmerz und untergründiger Sehnsucht.