Ein Anderer Tod

Ein anderer Tod 
ISBN-10: 3950390634 / ISBN-13: 978-3950390636
Publisher: Nischen Verlag
Translator: Eva Zador
Language: German
Country: Austria
Publication date: 2016
Edition: hardcover

An excerpt

Letztendlich setzte sich das fort, was in Bad Heim unterbrochen worden war, nur saß ich jetzt bei den Gesprächen in meinem eigenen Sessel, oder gerade auf dem Bett, oder auf dem Hocker, aber, wenn ich wollte, hockte ich mich hin oder ging auf und ab, oder schaute gerade aus dem Fenster meines Zimmers hinaus, von wo man die Wohnung von Herrn Szamos und seiner Frau im Erdgeschoss ebenso sehen konnte wie den Turm der Kirche St. Theresia, oder den seitlichen Gebäudeflügel des Budapester Talmud-Vereins, den die Lubawitscher Chassidim benutzen; wenngleich ich dazu das Fenster aufmachen und mich weit hinauslehnen muss, wie ich es in letzter Zeit häufig getan habe, da ich auch von hier oben die Mauern sehen wollte, fünfzehn Meter sind immerhin fünfzehn Meter; selbstverständlich habe ich mir die Mauern auch von unten angesehen, weil ich mir auf dem Heimweg oder auf dem Weg zur Arbeit nicht nur die Fassade des Schas Chevra, also des Vereins, regelmäßig ansah, nicht nur die Synagoge im Innenhof, sondern auch die kleinen inneren Gebäude, die im rechten Winkel zur Synagoge standen, denn eigentlich interessierte mich der am meisten, dieser Seitenflügel, in dessen Räumen einst nicht die Lubawitscher Chassidim lernten und beteten, sondern die Rabbis und Mitglieder des Schas Chevra beziehungsweise dessen Schüler, die in der Stadt einst hohes Ansehen genossen, weil sie sich mit den Toten beschäftigten, und zu dieser Beschäftigung zählte Vieles, nicht nur das Einhalten der verschiedenen Regeln und Riten, sondern Vieles mehr, worüber Michael und ich natürlich nie sprachen, denn in den wöchentlich zwei, drei Stunden, die uns zur Verfügung standen, beschäftigten wir uns mit anderen Dingen, häufig auch mit solchen, die wir in unseren Briefen schon endgültig abgeschlossen glaubten, die wir aber aus irgendeinem Grund nicht abschließen konnten, da sie immer wieder zur Sprache kamen, so auch die Klinik. Nervenzusammenbruch, eine Erschöpfung der Nerven, hatte man ihm in Johannesburg gesagt, aber das konnte nicht sein, so kam er am anderen Ende der Leitung immer wieder aufs Neue darauf zurück, das konnte nicht sein, weil er gerade eben nicht erschöpft gewesen sei, überhaupt nicht erschöpft, weil er grundsätzlich Nerven aus Stahl habe, seine Nerven schon immer aus Stahl gewesen seien, was nichts besser belege als die Tatsache, dass er dem Mann in den zwölf Stunden durchgehend in die Augen gesehen hätte, da seine Nerven stark seien, außerordentlich stark, und das würde schon für immer so bleiben; aber gut, gut, soll es eine Erschöpfung gewesen sein – dann hätte sich diese Erschöpfung schon seit langem erschöpfen müssen, dann hätte er sie mit Willen und Geduld ausschöpfen müssen, wie er das Ganze in den vergangenen Jahren auch behandelt hätte, aber nein, weil alles geblieben sei, alles sei ganz genauso geblieben, was natürlich nicht genauso sei, ganz und gar nicht genauso, denn diese letzten Jahre seien in Deutschland vergangen, in dem Land, in dem man sowieso nicht leben könne, denn außer auf Sylt könne man in diesem Land nicht leben, nicht als ob man ohne Schlaf überhaupt irgendwo leben könne, also, sagte er bei einer dieser Gelegenheiten am anderen Ende der Leitung, wenn er das bislang vielleicht noch nicht gesagt hätte, wenn das bislang vielleicht noch nicht zur Sprache gekommen wäre, dann sage er es jetzt, so etwas hätte er auch in Deutschland gehabt, was so zu verstehen sei, dass er einmal in einer deutschen Klitsche gewesen sei, während er noch einmal betonen wolle, dass er nichts habe, wirklich überhaupt nichts, eine Sache ausgenommen, nämlich dass sie in dieser deutschen Klitsche gegen seinen Schlaf auch nichts hätten unternehmen können, sodass er auch weiterhin nicht schlafen könne, seit mehr als zwanzig Jahren könne er nicht schlafen, denn die zwei, drei Stunden, die er unter der Wirkung von Medikamenten in einer Art viertelunbewusstem Zustand verbringe, die würde er nicht als Schlaf bezeichnen, dann würde er eine gewisse Art von Betrunkenheit schon eher mit Schlaf vergleichen, was jedoch meist nicht allzu gut gelingen würde, ehrlich gesagt, überhaupt nicht, zumindest sei es ihm in den vergangenen zehn Jahren nicht gelungen, was man vielleicht damit erklären könne, dass es nur arbeite, nur arbeite und arbeite, dass in ihm ständig etwas arbeite, er wisse nicht was, aber unentwegt und unaufhaltsam arbeite in ihm etwas, von dem er nicht entscheiden könne, was es sei, weil er es nicht könne, denn es sei nicht sein Verstand, keinesfalls sei es sein Verstand, und auch nicht sein Ich, er wisse aber nicht was, es rattere nur, rattere und rattere, rattere immer nur, und während es immer nur rattere, arbeite das Ganze um ihn herum, arbeite und arbeite, arbeite immer nur, und kreise um ihn herum, immer im Kreis, denn das wisse er, dass es immer um ihn herum kreise, das wisse er entschieden: mit Konstanz hätte es begonnen, mit den Lehrjahren, dann gleich mit Sylt, dem schönsten deutschen Phänomen, denn für ihn sei Sylt das, was für andere eine glückliche Kindheit sei, „Sie müssen wissen, hier war ich glücklich“, dann gehe es mit Johannesburg weiter, zehn Jahre, zehn Jahre, die er mit nichts und niemandem tauschen wollen würde, da hätte es alles gegeben, was es geben muss, da tauchte nicht einmal sein Vater auf, denn der Kreis setzte sich später mit ihm fort, der sich eigentlich gar nicht fortsetzte, weil er irgendwie immer schon da gewesen war, nicht weil er ein Nazi-Nazi war, sondern weil sein Vater sein Vater war, was er nur so sagen könne, dass jemand ständig auf dem äußeren Kreis des Kreises kreist, was am Anfang eigentlich noch nicht so gewesen sei, in Konstanz und auf Sylt keinesfalls, denn da war die Reihenfolge einerseits Frauen, Frauen und wieder Frauen, und andererseits war die Reihenfolge Wasser und Insel und Wind, „wissen Sie, das waren die beiden natürlichen Reihenfolgen, erst dann kam der Alkohol, weil Alkohol ist immerhin Alkohol. Sie wissen ja, wie ein Kellner ist, was ein Kellner macht! Ein Glas vor Beginn, dann ein Glas in der ersten Stunde, ein Glas in der zweiten Stunde, ein Glas in der dritten Stunde und ein Glas in jeder weiteren Stunde bis zur sechzehnten, denn was auf Sylt zwölf Stunden waren, das wurden in Johannesburg sechzehn, ich konnte das leicht ab, ganz leicht, weil, wenn die Dinge in Ordnung sind, dann geht das leicht.“ Dazu brauche es wenig, sagte er, und er hätte dieses Wenige gehabt, was immer so hätte bleiben können, wenn dieser Mann nicht gekommen wäre und sich mit seinem verdammten Gewehr nicht vor ihn hingestellt hätte, das sei aber noch immer keine Antwort darauf, was in ihm arbeite, ständig in ihm kreise, hier in mir, zwanzig Stunden am Tag, aber ich könnte auch sagen, vierundzwanzig Stunden, denn wenn ich aufwache, dann spüre ich Vieles, nur keinen Schlaf, das Ganze geht weiter, geht ständig weiter, geht immer weiter, ich weiß nicht, wie lange das so weiter geht, der Arzt sagt, meine Nerven und meine Psyche. Also meine Psyche ist in Ordnung, das kann ich getrost festhalten, es reicht, mich nur umzuschauen, und ich sehe, wer um mich herum ist, was für gesunde Leute um mich herum sind, ich sehe, was um mich herum läuft, ich brauche nicht mal auf die Straße zu gehen, nicht als ob ich nicht rausgehen würde, ich gehe raus, ich gehe täglich raus und sehe meine Mitmenschen, meine gesunden Mitmenschen, die in V-Form scheißen und gegabelt pissen, ich bin gezwungen, das so zu sagen, entschuldigen Sie, aber wenn mir jemand mit meiner Psyche kommt, da werde ich aggressiv. In unserer Demokratie werde ich das ohnehin: in unserer westlichen Demokratie, wo sie einem ständig mit dem Recht kommen; das habe ich in Johannesburg auch ständig hören müssen, nur benutzen sie da andere Wörter; aber bei uns gibt es dafür ja auch andere Ausdrücke, sagen wir internationale Gemeinschaft, ja, sagen wir internationale Gemeinschaft, von der wir sehr wohl wissen, wie die ihre Sachen erledigt, wir wissen das nicht nur, wir sehen es, es reicht, nur mal auf die jetzigen Ereignisse zu achten… in Bosnien… sehen Sie sich die Nachrichten doch einmal an, hören Sie sich die nur einmal an, oder hören Sie sich die Nachrichten lieber gar nicht erst an, Sie wissen sowieso, was die da machen mit allen möglichen Ausschüssen an der Spitze… ja, die sind da nicht nur Herr der Lage, sondern erledigen auch gleich alles, nähern sich intelligent den Problemen, keine Turbulenzen oder Tumulte, stattdessen: Innovation und Intelligenz, kein Wunder, wenn sie was von Logistik verstehen, wie schön die Briten auch die Konzentrationslager aus der Schublade hervorgekramt haben, die Buren wären in diesem erbärmlichen Krieg nicht dazu in der Lage gewesen, Afrika hat wohl doch seinen Einfluss gehabt, die Briten aber bleiben immer unabhängig, während ich nach wie vor nicht weiß, was hier ständig in mir kreist, was hier arbeitet, und meine Ärzte wissen es auch nicht, aber die schlafen wenigstens, die schlafen wenigstens ein paar Stunden, ich weiß nicht, wie viel sie schlafen, aber sechs, sieben Stunden schlafen sie bestimmt, und wenn nicht sechs, sieben, dann eben vier, fünf, und wenn nicht vier, fünf, dann zwei, drei wie ich, und vielleicht ohne nachzuhelfen, und wenn nicht, dann lösen sie es sicher irgendwie, immerhin sind das ja Ärzte, von dem einen Kollegen eine Woche lang Tabletten in der Farbe, von dem anderen Kollegen eine Woche lang Tabletten in jener Form, oder ein bisschen Traumlikör oder etwas anderes, wesentlich ist, dass die zwei, drei Stunden garantiert sind, und das lösen sie offensichtlich irgendwie. Wenn mir das auch gelingen würde, wenn mir wenigstens so viel gelingen würde, dann käme ich für x Stunden sicher zur Ruhe. Ganz sicher. Dann würde das Ganze nicht weiter rattern, dieses Irgendwas, das hier in mir ist, das so in mir ist, dass ich nicht weiß, wie es in mir ist, während ich sehe, dass die verhandelnden Parteien und die von der Gemeinschaft immer neuere Abkommen unterschreiben – so wie das letzte auch, in dem sie die Grenzlinien festgelegt haben. Das sehe ich im Fernsehen, das höre ich im Radio, das lese ich in der Zeitung. Sie haben auch berichtet, dass die Region Srebrenica in vollem Umfang als gesichert erklärt wird, alles sei in allerbester Ordnung, haben sie gesagt, und dann hat sich herausgestellt, dass es doch nicht so ganz in Ordnung war, das nenne ich Recht, allgemeines Recht, internationales Recht, Sicherheitsrecht, rechtliches Recht, durch verantwortliche Mächte und verantwortliche Führungskräfte garantiertes Recht. Auch mit meinem Arzt habe ich darüber gesprochen, weil ich einen Arzt habe, obwohl mir nichts fehlt, denn mir fehlt nichts, außer dass ich nicht schlafen kann, ich weiß nicht, wie das gekommen ist; natürlich wissen meine Ärzte das auch nicht. Zweimal sogar war ich eine zeitlang bei ihnen drin, damit sie es herausfinden, es endlich herausfinden, und dann kommen sie mir mit der Erschöpfung, ständig kommen sie mir mit dieser Erschöpfung; und wenn ich vielleicht erschöpft bin, dann bin ich von etwas anderem erschöpft, am ehesten davon, was ich um mich herum sehe. Ich habe Doktor Hübner auch davon erzählt, aber dann habe ich es gelassen. Blablabla, Quatsch mit Soße, das sage ich Ihnen, Blablabla, Quatsch mit Soße. Aber was soll ich machen, wenn sie mich in der Hand haben? Ohne sie würde ich keinen Pfennig Rente bekommen, weil die, die mir die Rente zahlen, nicht in die Tasche greifen, wenn meine Ärzte kein grünes Licht geben. Die Rechnung zahlen nämlich immer die, denen ebenfalls was gezahlt wird, nur so kann ich Ihnen das erklären. So wie ich früher auch gezahlt habe. Glauben Sie, dass diese Herren sich von meinen einstigen Zehntausenden nicht ihren Teil genommen haben? Aber natürlich haben sie sich den genommen, nicht umsonst ist die deutsche Krankenkasse so berühmt, eigentlich noch berühmter als das deutsche Wirtschaftswunder, aber davon wissen die Ausländer nichts… Aber natürlich haben sie sich ihren Teil genommen, nur recht so, dass sie jetzt an mich zahlen, logo, dass die an mich zahlen, aber nach alldem müssen sie auch zahlen.

Blurb

Ein ehemaliger Universitätsdozent in Budapest fällt psychisch und existenziell ins Bodenlose. Ein in Deutschland lebender Kellner entwickelt Schlafstörungen und bringt sich um. Eine ungarische Aristokratin pendelt zwischen ihren Leben als Klempnerin, als Taxifahrerin und als Schutzengel eines der bedeutendsten ungarischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Die Geschehnisse in einem Genfer Restaurant werden rekonstruiert und zeigen ein enge Verbindung mit den blutigen Ereignissen in Bosnien. Momentaufnahmen aus dem ungarischen Alltag nach der Wende… 

Die parallele Erzählung der verschiedenen Stränge weckt die Spannung, dieses literarische Geflecht – wie in einem guten Krimi – zu enträtseln. Ein anderer Tod ist der groß angelegte schriftstellerische Versuch, die verborgenen Zusammenhänge zwischen dem persönlichen Schicksal und der Zeitgeschichte aufzuzeigen.

„Ein wunderbarer ungarischer Schriftsteller – noch einer! – ist zu entdecken.“ (Jörg Plath, NZZ)

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